Meine Gedanken kreisen um das Phänomen des ‚Gesehenwerdens‘.
Wir alle nehmen wahr und werden wahrgenommen. Die meisten von uns sind mit der vermeintlichen Wahrnehmung der anderen, die häufig mit einem Urteil verknüpft war, erzogen worden: „Was sollen die Nachbarn denken, wenn du…? Wie soll ich dich liebhaben, wenn du nicht…? Wenn du immer dieses oder jenes tust, geht es mir nicht gut. Nun sei doch endlich mal lieb!“ etc.
Daraus folgt die Idee, über unser Verhalten die Wahrnehmung der Mitwelt beeinflussen zu können; sie ist uns allen vertraut. Wir möchten gern auf eine bestimmt Weise angesehen sein und versuchen uns entsprechend zu verhalten. Dabei geht in den meisten Fällen viel verloren – nämlich all das, was nicht gesehen werden soll, weil es (eventuell) negativ beurteilt werden würde. Da nun jeder irgendetwas anderes nicht so gern mag, wird das was als „erwünschtes Verhalten“ übrig bleibt, mit der Zeit unter Umständen immer weniger. Das bedeutet, dass die Ausdrucksmöglichkeiten, die wir für unsere Empfindungen haben, auch immer weniger werden. Wir selbst werden immer weniger und irgendwann wissen wir gar nicht mehr, wer wir eigentlich sind.
Wenn wir uns selbst nur noch durch die Augen der anderen sehen, kann kaum etwas anderes als ein Zerrbild dabei herauskommen. Das Gesehenwerden beginnt also bei mir selbst mit der Klärung meiner Selbstwahrnehmung. Wie sehe ich mich? Mit wessen Augen schaue ich gerade auf mich? Was ist Wunsch und was ist Wirklichkeit? Kann ich mich im Spiegel ansehen? Welche Spiegel vermeide ich? Was mag ich an mir und was gefällt mir nicht? Wieso?
Interessant dabei ist, dass bei allen Tarnversuchen, die wir so unternehmen, meistens doch der Kern unserer Persönlichkeit irgendwo sichtbar oder zumindest spürbar bleibt und auch erkannt wird. Wenn wir unsere Wahrnehmung von allem befreien, was nicht wirklich zu uns gehört, wird dieser Kern auch für uns selbst wieder sichtbar und wir können damit beginnen das, was wir wirklich sind, schrittweise wieder lebendig werden zu lassen.
Je klarer wir also für uns selbst sichtbar geworden sind, umso klarer können wir auch für andere sichtbar werden. Je respektvoller wir auf uns selbst schauen, umso respektvoller wird auch der Blick der Umwelt sein. Respekt bedeutet dabei zum Beispiel, auf Selbstabwertung oder Selbstverurteilungen mehr und mehr zu verzichten und sich stattdessen in aller Klarheit so anzunehmen, wie man ist.
Das ist nicht immer einfach und führt oft tatsächlich zu Konflikten mit denen, deren Forderungen wir nun nicht mehr befriedigen. Ja, sichtbar sein hat tatsächlich Folgen und manchmal muss man auch Gegenwind aushalten. Zum eigenen Wesen zu stehen und JA zu sagen ist eine der anspruchsvollsten Aufgaben, die wir in der Lebensschule zu bewältigen haben. Je öfter das tatsächlich klappt, umso zufriedener und glücklicher fühlen wir uns und es stärkt die Selbstwertschätzung ungemein. Das ist ein lohnenswertes Ziel und so ganz ohne Gegenwind läuft das Leben nun einmal nicht.
© ao