Führung und Fügung
Kennen Sie das? – Sie verpassen die Bahn und kommen nicht rechtzeitig zu dem Konzert, auf das Sie sich so gefreut haben. Die nächste Bahn fährt in einer Stunde. Das lohnt sich nicht und Sie gehen total frustriert wieder nach Hause. Wie ärgerlich! Am nächsten Tag lesen Sie in der Zeitung, dass der Dirigent krank war, der Ersatzmann nicht gut vorbereitet und die Musiker lustlos. Oder: Der Grafiker verschläft es, den Druckauftrag für den Flyer zu erteilen und wochenlang passiert nichts. Was soll das? Sie schauen sich Ihre Unterlagen noch einmal an und haben plötzlich noch einen wichtigen Änderungswunsch, der dann tatsächlich noch berücksichtigt werden kann. Irgendwie fügt sich vieles von allein, wenn wir das zulassen.
Wir haben alle schon einmal so etwas erlebt und vermutlich meistens das Wort „Zufall“ als Erklärung herangezogen. Wir glauben nicht so recht daran, dass es eine Instanz gibt, die schlauer ist als wir und einen sinnvollen Plan verfolgt. Schließlich kennen wir den Plan ja auch nicht und sind ohnehin geneigt, den Sinn von irgendetwas nur dort zu erkennen, wo wir ihn auch sehen bzw. verstehen können. Das könnte eine Folge der Überbetonung der Rationalität in unserem Leben sein, weil die Idee „Ich denke, also bin ich“ für viele zur Lebensmaxime geworden ist.
Das hat zum Beispiel zur Folge, dass die Einstellung „Der Mensch denkt, Gott lenkt“ von vielen als Unsinn abgetan wird und auch die mit dem altmodischen Wort „Gottvertrauen“ beschriebene Zuversicht in das Leben etwas für realitätsferne Träumer ist. Wir glauben lieber unserem Verstand und Gott ist nach Nietzsche sowieso tot. Dabei übersehen wir, dass es hier weniger um irgendeinen Gott geht oder die Frage, ob wir daran glauben oder welchen Kult wir üben. Es geht vielmehr darum, dass es in uns eine wichtige Instanz gibt, die maßgeblich an jeder unserer Entscheidungen beteiligt ist. Ich bezeichne sie hier als Intuition – es gibt noch unzählige andere Beschreibungen und Namen (u.a. innere Führung oder auch Gott J), die letztlich alle das gleiche meinen. Ich folge also der Intuition und bin zwar frustriert, dass ich die Bahn verpasst habe, fahre aber trotzdem nicht mit dem Taxi zum Konzert; ich rücke dem Grafiker nicht unnötig auf die Pelle und akzeptiere, dass er möglicherweise gerade andere Prioritäten hat.
Ich treffe intuitiv die Entscheidung, die Dinge so zu lassen, wie sie gerade sind und nicht partout meinen Willen durchzusetzen. Ich treffe diese (unbewusste) Entscheidung auf jeden Fall zuerst und mein Verstand verarbeitet das danach zu bewussten Argumenten. Damit will ich ausdrücken, dass es uns in der Regel sehr schwer fällt, die Gegebenheiten (Situationen, Menschen,…) einfach so anzunehmen wie sie sind in der Idee, dass alles richtig und in Ordnung ist, dass es einen Sinn hat – auch ohne dass wir ihn erkennen und / oder verstehen. Wir brauchen für alles eine „vernünftige“ Erklärung, sonst läuft unser Verstand Amok.
Etwas klarer wird es, wenn wir unsere tagtäglichen Entscheidungen immer mal wieder beleuchten und herausfinden, was uns tatsächlich dahin geführt hat. Dabei hilft es vielleicht, wenn wir das Zitat so lesen: „Der Verstand denkt, die Intuition lenkt“. Was hat mich also wirklich zu dieser Entscheidung geführt? Was ist meine eigentliche Motivation? Was ist mir wirklich wichtig? Aber auch: Wie sieht das im Zusammenhang aus? Sind übergeordnete Interessen berührt? Gibt es Zusammenhänge, die sich nicht auf den ersten Blick erschließen?
Oft glauben wir auch nur, eine Entscheidung getroffen zu haben, weil der Verstand etwas beschlossen hat (Der Flyer muss fertig werden! SCHNELL!!!). Die Realität gestaltet sich ganz anders: Ich möchte mein Angebot jetzt noch nicht realisieren. Das ist die eigentliche Entscheidung und die hat nicht der Verstand getroffen. Wenn ich es schaffe zu akzeptieren, dass ich mich noch nicht hinreichend präpariert fühle, um jetzt loszulegen, kann ich den Sinn darin erkennen, dass auch der Flyer noch nicht fertig ist – wozu auch? Ich folge also der Führung und es fügt sich. Der Verstand erklärt das im Nachhinein, entscheidet aber nicht. Das ist wichtig.
Dabei gehe ich davon aus, dass meine (innere) Führung immer das Beste für mich will und dass die jeweilige Fügung dann das Beste für mich ist – sofern ich der Führung auch wirklich folge und nicht „korrigierend eingreife“ – also zum Beispiel mit dem Taxi zum Konzert fahre und mich dann über den verkorksten Abend schwarz ärgere. Das ist anspruchsvoll! Es stellt unser gewohntes Denken völlig auf den Kopf und verlangt Hingabe an das, was jetzt ist. Das Zusammenspiel von Führung und Fügung braucht neben Hingabe außerdem eine gehörige Portion Gelassenheit. Wie schön, dass das Leben geduldig mit uns ist und immer wieder dafür sorgt, dass wir nicht aus der Übung kommen!
©ao