Gaben und Geschenke

 

Von Gaben und Geschenken

 

Vor kurzem hatte ich das Vergnügen, einem besonderen Künstler bei der Arbeit zuschauen zu dürfen und dachte: „WOW, das würde ich auch gern mit der Leichtigkeit können! Schade, dass ich da nicht begabt bin.“ Ich habe also noch ein bisschen zugeschaut und gestaunt und dabei dann angefangen, über Begabungen und Talente nachzudenken, die uns zumindest in ihren Grundlagen in die Wiege gelegt und uns damit geschenkt werden. Jede/r von uns hat diese Geschenke bekommen, auch wenn nicht aus jedem von uns ein Ausnahmekünstler oder -Athlet oder -Handwerker usw. wird. Jemand, der seine Begabung einsetzt, beschenkt damit sich selbst und dann vielleicht auch andere.

Soweit der Gedanke. Wie sieht es in der Realität aus? Kenne ich meine Begabungen überhaupt bzw. erkenne ich sie als solche (an)? Wie viel von dem, was wir so tagtäglich tun, ist für uns so selbstverständlich, dass wir gar nicht auf die Idee kommen, das als eine Gabe oder ein Geschenk zu betrachten? Andererseits: Ist es realistisch und fair, wenn ich z.B. meinen feinen Geschmackssinn und das Gespür für interessante geschmackliche Kompositionen erst dann als Talent (an)erkenne, wenn ich den soundsovielten Michelin-Stern erkocht habe? Bin ich erst dann eine begabte Sportlerin, wenn ich olympisches Gold errungen habe? Oder reicht es schon, wenn ich „besser“ bin als meine Schwester? Braucht es überhaupt den Vergleich? Und wenn ja, wozu dient er? Ist es überhaupt wichtig, dass ich eine begabtere Blockflötenspielerin bin als meine beste Freundin?

Ja, natürlich gibt es sie, diese besonderen Begabungen, und es ist auch gut, sie zu fördern – bei anderen und auch bei sich selbst. Und ja, natürlich ist es ein wunderbares Gefühl, etwas ganz Besonderes zu können oder geschafft zu haben. Dazu darf man jedem – auch sich selbst – aus ganzem Herzen gratulieren und ebenso darf man ganz sicher dankbar dafür sein. An irgendeinem Punkt hat bestimmt jede/r von uns mal gedacht: „Das würde ich auch gern können“ oder „So eine Goldmedaille würde mich auch gut kleiden“.

Offenbar liegt es im menschlichen Wesen begründet, sich zu vergleichen. Das ist einerseits ganz normal und oft auch gut so, andererseits verschiebt das den Focus. Wir schauen auf die anderen anstatt auf uns selbst und weil das Gras auf der anderen Seite immer irgendwie grüner ist, wollen wir das andere und übersehen das eigene.

Wir übersehen, dass jede/r von uns eine einzigartige Kombination aus diversen Gaben und Geschenken ist und nehmen unsere Gaben oft erst durch die Augen der anderen wahr. Jemand lobt uns für etwas, das für uns selbstverständlich ist, und wir werden auf etwas aufmerksam gemacht, was wir vielleicht gar nicht mehr oder gar nicht so wahrnehmen, weil wir einen anderen Maßstab anlegen. Tante Ilse findet, dass ich aber gut malen kann und ich (kann das zwar ganz gut) finde aber, dass Picasso besser war. Tante Ilse wäre vielleicht froh, wenn sie es so könnte wie ich und käme nie auf die Idee, ihren Maßstab bei Picasso anzusetzen.

So oder ähnlich geht es vielen von uns mit vielen unserer Gaben: Wir würdigen sie nicht, weil wir sie gar nicht als Gaben und Geschenke wahrnehmen. Ich bin ganz sicher, dass jede/r von uns solche (versteckten) Talente hat. Versuchen Sie doch einmal, Ihrer Kollegin oder Nachbarin, dem Postboten oder Gemüsehändler oder auch Ihrem Partner zu erzählen, was Sie besonders gut können. Das ist in aller Regel gar nicht so einfach. Wir haben nämlich gelernt, dass Eigenlob nicht so schön ist, dass irgendwer es immer besser kann, dass das doch kein Talent ist, sondern eine Selbstverständlichkeit (in einer Musikerdynastie ist Musikalität vermutlich häufiger vorhanden, ein besonderes Talent ist sie trotzdem) usw. Meine Erfahrung damit ist diese: Sobald ich mein Talent dankbar annehmen kann, kann ich auch offen davon erzählen und ohne Selbstverkleinerung darüber sprechen. Ich nehme mich so an wie ich bin und zeige mich offen. Es ist mir egal, wer nun besser Blockflöte spielen kann – und wenn ich meine, dass ich noch Potenzial habe, darf ich gern auch üben, um mich weiter zu verbessern. Und Sie?

© ao

 


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