Scham- und Schuldgefühle

Scham- und Schuldgefühle

Scham- und Schuldgefühle

Viele Menschen kennen es, dieses Bedürfnis, vor Scham am liebsten sofort im Erdboden zu versinken, gar nicht mehr da zu sein und auch nie wieder auftauchen zu müssen. Sich zu schämen gehört ganz offenbar zum Menschsein, die meisten von uns kennen es gut. Wenn wir uns zum Beispiel schämen, weil wir jemanden wirklich und wissentlich schlecht behandelt haben, können wir aus dem Gefühl etwas lernen und es beim nächsten mal anders machen. Menschen, die nicht besonders mitfühlend sind, schämen sich in aller Regel selten bis gar nicht für ihr Verhalten, selbst wenn es grausam ist.

Davon soll jetzt nicht die Rede sein. Mir geht es hier um die Scham- und Schuldgefühle, mit denen wir uns selbst quälen, ohne dass irgendein „Fehler“ passiert ist. Wir schämen uns für unsere Bedürfnisse, unseren Körper, unsere Gefühle, für Schwächen und sogar für unsere Stärken, für alles, was wir an uns selbst nicht OK finden. Meistens ist das leider eine ganze Menge. Warum ist das so? Vermutlich, weil wir uns selbst für mehr oder weniger fehlerbehaftet halten und nicht gelernt haben, uns so anzunehmen, wie wir sind. Aber wer und wie bin ich denn? Was von all dem ist denn nun wirklich meins und was gehört woanders hin? Die Fragen sind zwar simpel, aber die Antworten darauf dann doch meistens eher komplex, denn es ist nicht so einfach, das eine sauber vom anderen zu trennen.

Schönheitsideale und Gesellschaftsnormen sind in diesem Zusammenhang noch recht einfach aufzuspüren und ich kann mich dem anschließen oder nicht. Aber wie steht es mit meinen ganz persönlichen Gegebenheiten? Wer bestimmt zum Beispiel, ab wann mein Verhalten rücksichtslos ist? Woran macht sich das fest? Wie viel Rücksicht auf fremde Wünsche und Bedürfnisse muss bzw. möchte ich nehmen? Wo sind in mir die Grenzen des Erträglichen? Muss ich mich wirklich schuldig fühlen und schämen, wenn ich einer pausenlos fordernden Bekannten einen Wunsch abschlage und sie sich darüber aufregt? Brauche ich ein schlechtes Gewissen, wenn ich mich um mich kümmere, weil ich gerade Gefühle von Schmerz und Trauer zu verarbeiten habe, und dafür dann auch Tante Ilses 90. Geburtstag sausen lasse? Darf ich meiner Mutter sagen, dass ich jetzt keine Zeit für sie habe, obwohl sie schwer krank ist? Muss ich bei meinem Mann bleiben, obwohl er mich schlecht behandelt, nur weil ich glaube, dass er mich braucht?

Scham- und Schuldgefühle zeigen in solchen Situationen an, dass wir in uns selbst nicht klar sind. Wir gestehen uns unsere eigenen Bedürfnisse und Gefühle nicht zu. Woran liegt das? Wenn wir unsere Bedürfnisse und Gefühle spüren und äußern, machen wir uns verletzbar. Diese Verletzbarkeit empfinden wir häufig als Schwäche, weil uns ja tatsächlich jemand wehtun kann. „Du bist immer so egoistisch (oder rücksichtslos oder unaufmerksam oder oder oder)“ aber auch „Ich dich nicht…“ oder auch „Deinetwegen geht es mir jetzt schlecht“ und „heul doch nicht dauernd rum“ hört niemand gern, denn das tut wirklich weh.

Viele alte Wunden, die wir mit uns herumtragen, resultieren aus dem Gefühl, nicht angenommen, nicht geliebt worden zu sein. Das wiederum führt häufig zu der unbewussten Idee, dass wir nicht liebenswert sind und uns ordentlich anstrengen müssen, damit uns überhaupt jemand mag. Wir fühlen uns einfach nicht richtig mit und in uns selbst und brauchen die Bestätigung von außen. Dafür sind wir dann auch bereit, unsere eigenen inneren Grenzen zu ignorieren und die Bedürfnisse der anderen zum Maßstab für uns und unser Handeln zu machen.

Um in uns selbst wieder mehr Klarheit zu finden, ist es nötig, dass wir diese Gefühle von schlechtem Gewissen, Schuld oder Scham spüren. Nur dann können wir herausfinden, woher sie kommen und wohin sie gehören. Das kann von Fall zu Fall sehr unterschiedlich sein. Wenn Tante Ilse meine Lieblingstante ist und ich weiß, dass sie wirklich traurig ist, wenn ich nicht zu ihrem Geburtstag komme, ist meine Bereitschaft zumindest für ein Stündchen hinzufahren sicherlich größer, als wenn wir uns sowieso nicht besonders gut verstehen und sie mich nur aus Höflichkeit eingeladen hat. Wichtig ist dabei, mich zu spüren. Wie fühlt sich das eine oder andere Szenario für mich an? Was will und brauche ich jetzt? Wie wichtig ist mir ein Kompromiss? Wofür brauche ich ihn bzw. was gibt mir das? Wie weit geht das JA und wo fängt für mich das NEIN an?

Welche Antworten wir auch immer finden, spielt dabei keine Rolle, solange wir ehrlich mit uns selbst sind. In dieser Ehrlichkeit können wir eine Entscheidung treffen und es gibt keinen Grund, im Nachhinein etwas zu bereuen, sich zu schämen oder schlecht zu fühlen. Ein ehrliches JA oder NEIN fühlt sich am Ende immer richtig an, selbst wenn es mit Enttäuschung auf der einen oder anderen Seite verbunden ist.

© ao

Komfortzonen

Komfortzonen

 

Komfortzonen

Vor ein paar Tagen ist mir ein Flyer in die Hände gefallen, der eine an ein indianisches Initiationsritual angelehnte Visionssuche anbietet. Zehn Tage dauert das – jeweils drei dienen der Vor- und Nachbereitung und die vier Tage in der Mitte verbringt man fastend und mit minimaler Ausstattung allein in der Wildnis bzw. dem, was in unseren Breiten davon noch übrig ist. „URGH“ war mein erster Gedanke, „das ist aber nichts für mich“.

Zugegeben, ein solches Ritual ist auch extrem, aber die dahinter liegende Idee hat Charme: Unsere Potenziale entdecken wir jenseits unserer Begrenzungen. Es müssen ja nicht gleich zehn Tage sein und ja, es gibt auch Begrenzungen, die schwierig oder vielleicht gar nicht zu überschreiten sind. Das Grundproblem liegt aber noch gar nicht in der Überschreitung der Grenzen, sondern darin, sie überhaupt erst einmal zu erkennen und zu spüren, sie als Begrenzung wahrzunehmen.

Der Blick darauf tut erst einmal nicht weh, oder vielleicht doch… Was begrenzt mich? Wodurch lasse ich mich begrenzen? In welcher Art und Weise begrenze ich mich selbst? Das ist insofern die schwierigste Frage, als dass ich mal wieder selbst zuständig bin. Eigentlich und bei Licht betrachtet begrenze ich mich nämlich immer nur selbst. Meine Grenzen bestimme ich – häufig bewusst und noch viel öfter unbewusst. Ich begrenze mich zum Beispiel, indem ich der Begrenzung durch andere zustimme – auch wieder bewusst oder unbewusst. Ich begrenze mich aber auch durch meine eigene Bequemlichkeit.

Es ist eben kuschelig in der Komfortzone, wo ich alles fein zurechtgelegt habe, was ich für mein Leben so brauche. Es gibt auch immer gute Argumente dafür, warum dieses oder jenes gerade jetzt nicht opportun ist oder ich auf dieses oder jenes im Prinzip zwar verzichten könnte, aber nicht jetzt. In der Komfortzone ist keine Entwicklung möglich. Es ist zwar bequem, aber auf die Dauer auch leblos, weil es nicht vorangeht. Das Leben stagniert dort früher oder später.

Wenn wir uns also weiter entwickeln wollen, Potenziale ausschöpfen, Visionen entwickeln und mit Leben füllen wollen, müssen wir unsere ganz persönliche Kuschelzone verlassen. Dabei spielt es keine Rolle, in welchem Bereich. Ohne Bewegung und ohne das Risiko, am Ende zu scheitern, passiert nichts. Die individuellen Grenzen sind so verschieden wie die Menschen und es hat auch nicht jeder die gleichen Ziele oder Mittel, um sie zu erreichen. Aber das Grundprinzip ist für alle gleich.

Um ein Gespür für meine Grenzen und Begrenzungen zu haben ist es gut, wenn ich mir Klarheit über meine Wünsche und Bedürfnisse verschaffe. Was will ich wirklich? Was brauche ich unbedingt? Habe ich das? In welchem Umfang? Oder auch: Warum habe ich es nicht? Was hindert mich daran? Wo und in welcher Weise stehe ich mir selbst im Weg?

Die allermeisten unserer Begrenzungen entstehen im Kopf. Im Grunde sind es nur Gedanken. Wir könnten ohne Probleme auch anders darüber denken, wenn wir uns das erlauben würden. Allerdings sind wir in der Regel eher dazu bereit, eine „verwegene Idee“ zu verwerfen als gute Gründe dafür zu finden. Die vermeintliche Sicherheit des Bekannten ist einfach sehr verlockend.

Eine andere Frage, die einen an die eigenen Grenzen heranführt, könnte lauten: „was kann / darf / soll jetzt gehen?“. Was tragen wir an inneren Grenzen in uns, die wir eigentlich nicht brauchen? Was ist in unserem Leben schon lange nicht mehr so, wie wir es brauchen und wir halten trotzdem daran fest? Welches Gedanken- und Gefühlsgerümpel in mir verhindert, dass etwas Neues in mein Leben treten kann? Ein immer wieder gern zitiertes Beispiel dafür ist der Kleiderschrank, der einfach gelegentlich von altem Kram befreit werden muss, damit ein neues Outfit Platz findet.

Wir trennen uns einfach nicht gern von dem, was wir kennen, und laufen damit Gefahr, immer wieder beim bereits Bekannten zu landen. Das ist auf jeden Fall bequem und in vielen Fällen sogar angenehm, aber eben auch sehr begrenzt.

Es erfordert Vertrauen, das Alte abzulegen ohne das Neue zu kennen. Da kann man es schon mal mit der Angst zu tun bekommen. Angst ist das Gegenteil von Vertrauen. Wo immer ich die Angst regieren lasse, habe ich das Vertrauen aufgegeben. Das Vertrauen zu mir selbst und meinen Fähigkeiten, das Vertrauen ins Leben und darin, dass immer genug von allem für alle da ist. Das ist schade und oft auch schädlich.

Welche Grenze kann ich als nächste überschreiten? Wer kann mir dabei helfen? Was darf gehen in meinem Leben? An welcher Stelle kann ich mir einen neuen Anfang vorstellen? Wo brauche ich ihn? An welche Grenze traue ich mich nicht heran? Was genau beängstigt mich dort? Fragen, die sich lohnen, wenn man in Bewegung kommen will. Wie gesagt, es müssen ja nicht gleich zehn Tage im dunklen Wald sein…

© ao