Komfortzonen

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Komfortzonen

Vor ein paar Tagen ist mir ein Flyer in die Hände gefallen, der eine an ein indianisches Initiationsritual angelehnte Visionssuche anbietet. Zehn Tage dauert das – jeweils drei dienen der Vor- und Nachbereitung und die vier Tage in der Mitte verbringt man fastend und mit minimaler Ausstattung allein in der Wildnis bzw. dem, was in unseren Breiten davon noch übrig ist. „URGH“ war mein erster Gedanke, „das ist aber nichts für mich“.

Zugegeben, ein solches Ritual ist auch extrem, aber die dahinter liegende Idee hat Charme: Unsere Potenziale entdecken wir jenseits unserer Begrenzungen. Es müssen ja nicht gleich zehn Tage sein und ja, es gibt auch Begrenzungen, die schwierig oder vielleicht gar nicht zu überschreiten sind. Das Grundproblem liegt aber noch gar nicht in der Überschreitung der Grenzen, sondern darin, sie überhaupt erst einmal zu erkennen und zu spüren, sie als Begrenzung wahrzunehmen.

Der Blick darauf tut erst einmal nicht weh, oder vielleicht doch… Was begrenzt mich? Wodurch lasse ich mich begrenzen? In welcher Art und Weise begrenze ich mich selbst? Das ist insofern die schwierigste Frage, als dass ich mal wieder selbst zuständig bin. Eigentlich und bei Licht betrachtet begrenze ich mich nämlich immer nur selbst. Meine Grenzen bestimme ich – häufig bewusst und noch viel öfter unbewusst. Ich begrenze mich zum Beispiel, indem ich der Begrenzung durch andere zustimme – auch wieder bewusst oder unbewusst. Ich begrenze mich aber auch durch meine eigene Bequemlichkeit.

Es ist eben kuschelig in der Komfortzone, wo ich alles fein zurechtgelegt habe, was ich für mein Leben so brauche. Es gibt auch immer gute Argumente dafür, warum dieses oder jenes gerade jetzt nicht opportun ist oder ich auf dieses oder jenes im Prinzip zwar verzichten könnte, aber nicht jetzt. In der Komfortzone ist keine Entwicklung möglich. Es ist zwar bequem, aber auf die Dauer auch leblos, weil es nicht vorangeht. Das Leben stagniert dort früher oder später.

Wenn wir uns also weiter entwickeln wollen, Potenziale ausschöpfen, Visionen entwickeln und mit Leben füllen wollen, müssen wir unsere ganz persönliche Kuschelzone verlassen. Dabei spielt es keine Rolle, in welchem Bereich. Ohne Bewegung und ohne das Risiko, am Ende zu scheitern, passiert nichts. Die individuellen Grenzen sind so verschieden wie die Menschen und es hat auch nicht jeder die gleichen Ziele oder Mittel, um sie zu erreichen. Aber das Grundprinzip ist für alle gleich.

Um ein Gespür für meine Grenzen und Begrenzungen zu haben ist es gut, wenn ich mir Klarheit über meine Wünsche und Bedürfnisse verschaffe. Was will ich wirklich? Was brauche ich unbedingt? Habe ich das? In welchem Umfang? Oder auch: Warum habe ich es nicht? Was hindert mich daran? Wo und in welcher Weise stehe ich mir selbst im Weg?

Die allermeisten unserer Begrenzungen entstehen im Kopf. Im Grunde sind es nur Gedanken. Wir könnten ohne Probleme auch anders darüber denken, wenn wir uns das erlauben würden. Allerdings sind wir in der Regel eher dazu bereit, eine „verwegene Idee“ zu verwerfen als gute Gründe dafür zu finden. Die vermeintliche Sicherheit des Bekannten ist einfach sehr verlockend.

Eine andere Frage, die einen an die eigenen Grenzen heranführt, könnte lauten: „was kann / darf / soll jetzt gehen?“. Was tragen wir an inneren Grenzen in uns, die wir eigentlich nicht brauchen? Was ist in unserem Leben schon lange nicht mehr so, wie wir es brauchen und wir halten trotzdem daran fest? Welches Gedanken- und Gefühlsgerümpel in mir verhindert, dass etwas Neues in mein Leben treten kann? Ein immer wieder gern zitiertes Beispiel dafür ist der Kleiderschrank, der einfach gelegentlich von altem Kram befreit werden muss, damit ein neues Outfit Platz findet.

Wir trennen uns einfach nicht gern von dem, was wir kennen, und laufen damit Gefahr, immer wieder beim bereits Bekannten zu landen. Das ist auf jeden Fall bequem und in vielen Fällen sogar angenehm, aber eben auch sehr begrenzt.

Es erfordert Vertrauen, das Alte abzulegen ohne das Neue zu kennen. Da kann man es schon mal mit der Angst zu tun bekommen. Angst ist das Gegenteil von Vertrauen. Wo immer ich die Angst regieren lasse, habe ich das Vertrauen aufgegeben. Das Vertrauen zu mir selbst und meinen Fähigkeiten, das Vertrauen ins Leben und darin, dass immer genug von allem für alle da ist. Das ist schade und oft auch schädlich.

Welche Grenze kann ich als nächste überschreiten? Wer kann mir dabei helfen? Was darf gehen in meinem Leben? An welcher Stelle kann ich mir einen neuen Anfang vorstellen? Wo brauche ich ihn? An welche Grenze traue ich mich nicht heran? Was genau beängstigt mich dort? Fragen, die sich lohnen, wenn man in Bewegung kommen will. Wie gesagt, es müssen ja nicht gleich zehn Tage im dunklen Wald sein…

© ao

Gaben und Geschenke

Gaben und Geschenke

 

Von Gaben und Geschenken

 

Vor kurzem hatte ich das Vergnügen, einem besonderen Künstler bei der Arbeit zuschauen zu dürfen und dachte: „WOW, das würde ich auch gern mit der Leichtigkeit können! Schade, dass ich da nicht begabt bin.“ Ich habe also noch ein bisschen zugeschaut und gestaunt und dabei dann angefangen, über Begabungen und Talente nachzudenken, die uns zumindest in ihren Grundlagen in die Wiege gelegt und uns damit geschenkt werden. Jede/r von uns hat diese Geschenke bekommen, auch wenn nicht aus jedem von uns ein Ausnahmekünstler oder -Athlet oder -Handwerker usw. wird. Jemand, der seine Begabung einsetzt, beschenkt damit sich selbst und dann vielleicht auch andere.

Soweit der Gedanke. Wie sieht es in der Realität aus? Kenne ich meine Begabungen überhaupt bzw. erkenne ich sie als solche (an)? Wie viel von dem, was wir so tagtäglich tun, ist für uns so selbstverständlich, dass wir gar nicht auf die Idee kommen, das als eine Gabe oder ein Geschenk zu betrachten? Andererseits: Ist es realistisch und fair, wenn ich z.B. meinen feinen Geschmackssinn und das Gespür für interessante geschmackliche Kompositionen erst dann als Talent (an)erkenne, wenn ich den soundsovielten Michelin-Stern erkocht habe? Bin ich erst dann eine begabte Sportlerin, wenn ich olympisches Gold errungen habe? Oder reicht es schon, wenn ich „besser“ bin als meine Schwester? Braucht es überhaupt den Vergleich? Und wenn ja, wozu dient er? Ist es überhaupt wichtig, dass ich eine begabtere Blockflötenspielerin bin als meine beste Freundin?

Ja, natürlich gibt es sie, diese besonderen Begabungen, und es ist auch gut, sie zu fördern – bei anderen und auch bei sich selbst. Und ja, natürlich ist es ein wunderbares Gefühl, etwas ganz Besonderes zu können oder geschafft zu haben. Dazu darf man jedem – auch sich selbst – aus ganzem Herzen gratulieren und ebenso darf man ganz sicher dankbar dafür sein. An irgendeinem Punkt hat bestimmt jede/r von uns mal gedacht: „Das würde ich auch gern können“ oder „So eine Goldmedaille würde mich auch gut kleiden“.

Offenbar liegt es im menschlichen Wesen begründet, sich zu vergleichen. Das ist einerseits ganz normal und oft auch gut so, andererseits verschiebt das den Focus. Wir schauen auf die anderen anstatt auf uns selbst und weil das Gras auf der anderen Seite immer irgendwie grüner ist, wollen wir das andere und übersehen das eigene.

Wir übersehen, dass jede/r von uns eine einzigartige Kombination aus diversen Gaben und Geschenken ist und nehmen unsere Gaben oft erst durch die Augen der anderen wahr. Jemand lobt uns für etwas, das für uns selbstverständlich ist, und wir werden auf etwas aufmerksam gemacht, was wir vielleicht gar nicht mehr oder gar nicht so wahrnehmen, weil wir einen anderen Maßstab anlegen. Tante Ilse findet, dass ich aber gut malen kann und ich (kann das zwar ganz gut) finde aber, dass Picasso besser war. Tante Ilse wäre vielleicht froh, wenn sie es so könnte wie ich und käme nie auf die Idee, ihren Maßstab bei Picasso anzusetzen.

So oder ähnlich geht es vielen von uns mit vielen unserer Gaben: Wir würdigen sie nicht, weil wir sie gar nicht als Gaben und Geschenke wahrnehmen. Ich bin ganz sicher, dass jede/r von uns solche (versteckten) Talente hat. Versuchen Sie doch einmal, Ihrer Kollegin oder Nachbarin, dem Postboten oder Gemüsehändler oder auch Ihrem Partner zu erzählen, was Sie besonders gut können. Das ist in aller Regel gar nicht so einfach. Wir haben nämlich gelernt, dass Eigenlob nicht so schön ist, dass irgendwer es immer besser kann, dass das doch kein Talent ist, sondern eine Selbstverständlichkeit (in einer Musikerdynastie ist Musikalität vermutlich häufiger vorhanden, ein besonderes Talent ist sie trotzdem) usw. Meine Erfahrung damit ist diese: Sobald ich mein Talent dankbar annehmen kann, kann ich auch offen davon erzählen und ohne Selbstverkleinerung darüber sprechen. Ich nehme mich so an wie ich bin und zeige mich offen. Es ist mir egal, wer nun besser Blockflöte spielen kann – und wenn ich meine, dass ich noch Potenzial habe, darf ich gern auch üben, um mich weiter zu verbessern. Und Sie?

© ao